Zigeuner – Begegnungen mit einem ungeliebten Volk

Zigeuner: Als Kinder waren wir einerseits fasziniert von ihnen, wurden andererseits aber angehalten, Abstand zu halten. Was wir aufgrund der Erzählungen über sie auch taten. Im Prinzip ist das bei mir bis heute so geblieben. Als ich dann in der Erasmus-Buchhandlung in Hermannstadt das Buch „Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk“ entdeckte, wähnte ich eine gute Gelegenheit, um mein Wissen über Zigeuner etwas zu vertiefen.

Als ich mit dem Lesen anfing, war ich hocherfreut: Das Buch liest sich sehr gut! Es ist keine wissenschaftliche oder theoretische Abhandlung über die Geschichte oder den sozialen Status der Zigeuner. Der Autor, Rolf Bauerdick, versucht nicht, das Leid der Zigeuner oder ihr „Anderssein“ modellhaft zu erklären, sondern präsentiert eine Reihe von Erlebnissen, Erfahrungen, Gedanken und Schlussfolgerungen zu und über das Leben von Zigeunern. Diese fügen sich jedoch trotzdem zu einem umfassenden Bild.

Bauerdick schreibt auch nicht von Sinti und Roma, sondern von Zigeunern. Un er verteidigt das: Er zeigt auf, dass es der politisch motivierten Initiative des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zu verdanken ist, dass stellvertretend für „Zigeuner“ der Begriff Sinti und Roma verwendet werden soll. Das jedoch irritiert sogar Zigeuner selbst, die stolz von sich behaupten, Zigeuner und nichts anderes zu sein.

Weiterhin kritisiert der Autor vehement die Berichterstattung über sowie die Forschung zu Zigeunern und zu Ressentiments der Gesellschaft gegenüber von Zigeunern. Er selbst habe nie Forscher auf seinen zahlreichen Reisen getroffen, die vor Ort geforscht und beispielsweise Zigeuner nach ihrer Wahrnehmung befragt haben. „Dessen ungeachtet sitzen die Kritiker der antiziganen Mehrheitskultur [die krampfhaft Belege suchen, dass Zigeuner diskriminiert werden] bei ungezählten Tagungen, Kongressen und Symposien als Sinti-und-Roma-Experten auf den Podien“ (Seite 174).

Bauerdick, von Haus aus Fotograf, kam erstmals 1990 mit Zigeunern in Kontakt, als er den Exodus der Siebenbürger Sachsen fotografisch dokumentieren sollte. Seither hat er viele Reisen zu Zigeunern in ganz Europa unternommen und einen reichen Erfahrungsschatz aufgebaut, aus dem er im Buch berichtet. Die meisten Geschichten drehen sich um Zigeuner in oder aus Rumänien. Zweiter regionaler Schwerpunkt ist Ungarn, wo die Konflikte zwischen Ungarn und Zigeunern noch massiver als in Rumänien zutage treten.

Der Autor berichtet gerne von einzelnen Beispielen, die er dann in generelle Überlegungen einbettet. Da ist beispielsweise die Geschichte des Zigeuners Stelian Coseriar, der in Kleinkopisch (Copşa Mică), wo es eine Rußfabrik und eine Buntmetallhütte gab, in der Rußproduktion sowie in der Bleigewinnung arbeitete und Brandkessel reinigen musste. Mit Mitte 40 wurde er nach der Revolution entlassen und fand keinen Job mehr. Unter anderem an seinem Beispiel zeigt Bauerdick, dass die Zigeuner bereits in der Zeit vor dem Zusammenbruch des Ostblocks ein schweres Leben hatten. Ein Sachse aus Kleinkopisch berichtete ihm: „Für die schlimmsten Arbeiten wurden ungelernte Rumänen und Straffällige herangezogen. Vor allem aber Zigeuner“ (Seite 31). Nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs war jedoch auch das Vergangenheit: Nur noch wenige Zigeuner fanden irgendwo eine Anstellung.

Jedes der 14 Kapitel widmet sich anhand von Beispielen und Überlegungen einem bestimmten Aspekt des Daseins der Zigeuner. Es geht um ihre Geschichte, ihre Stellung am Rande der Gesellschaft, ihr Unvermögen, sich selbst zu organisieren, ihre Einteilung nach Berufsgruppen, die Berichterstattung über Zigeuner usw.

Ein sehr positiver Aspekt des Buches ist, dass Bauerdick nicht nur die „Gesellschaft“ für das Leid und die Diskriminierung der Zigeuner verantwortlich macht, sondern an vielen Beispielen aufzeigt, dass sie es nicht versuchen, sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien. Bauerdick zeigt seine Sympathie für die Zigeuner, verdeutlicht aber auch unverhohlen seine Abscheu, dass Väter beispielsweise aus Angst, ihre Autorität zu verlieren, zum Teil mit Gewalt verhindern, dass ihre Kinder zur Schule gehen. Als Entwicklungshindernisse sieht er auch, dass den Zigeunern Orientierungshilfen wie ein fester Glaube – sie glauben eher daran, dass sie durch Rituale und magische Zauber Einfluss auf das Schicksal nehmen können – oder eine Mittelschicht fehlen. Auch große Gestalten beziehungsweise berühmte Persönlichkeiten als Einheitsstifter fehlen ihnen.

Eine Geschichte, die das Dilemma der Zigeuner aufzeigt, ist die von Hansi Schnell und Wolkendorf bei Schäßburg. Hansi Schnell, ein rücksiedelnder Sachse, war die Hoffnung der Zigeuner im Ort: „Wenn der Hansi seine Besuche ankündigte, räumten sie den Müll weg, fegten die Dorfstraße und achteten während seiner Anwesenheit darauf, nur in erträglichen Maßen zu trinken.“ (Seite 53). Hansi feierte mit seinem Projekt und dem Dorf große Erfolge, musste dann jedoch, da seine Frau schwer erkrankte, mit ihr zurück nach Deutschland. Ohne ihn und seine Führung fühlte sich keiner ehr im Dorf für irgendetwas verantwortlich: „Das Vieh wurde nicht gefüttert, die Kühe nicht gemolken. Keiner säuberte die Ställe, keiner bestellte die Felder. Binnen kürzester Zeit waren die Traktoren zu Schrott gefahren, die Reifen geplatzt, die Ersatzteile verscherbelt und die Anhänger demoliert. […] Sie [die Bewohner Wolkendorfs] waren nicht fähig, den verhängnisvollen Teufelskreis aus Entwurzelung, Verwahrlosung und Abhängigkeit aus eigener Willenskraft zu unterbrechen“ (Seite 57).

Die Beobachtung taucht im Buch oft auf: Mankos einer starken Identität und Gemeinschaft von Zigeunern sind die fehlende Selbstorganisation, der mangelnde Zusammenhalt untereinander sowie die Passivität in Bezug darauf, bestehende Angebote zu suchen und wahrzunehmen. Der gegenseitige Respekt untereinander und – wie es im Buch mehrfach gezeigt wird – vor sich selbst fehlen größtenteils oder sind abhanden gekommen.

Am Ende des Buches wartete ich auf Vorschläge, wie sich Zigeuner aus ihrer marginalen sozialen und ökonomischen Lage befreien können beziehungsweise was von Politik, Gesellschaft, uns getan werden muss, um ihnen andere Möglichkeiten zu bieten. Allerdings vermeidet es der Autor, diesbezügliche Vorschläge zu machen, wohl auch aus der Erkenntnis heraus, dass es hier keine einfachen Antworten gibt.

Ein starkes Buch! Übrigens gibt es auf der Seite von Rolf Bauerdick noch die hervorragende Bilderserie Gypsy-Passion und unter anderem auch eine Reportage zu Zigeunern, die auf einer Müllkippe in Oradea leben. Im Buch erwähnt Bauerdick die Begegnung mit ihnen als eines seiner deprimierendsten Erlebnisse überhaupt.

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Foto: Rolf Bauerdick (Mitte des gebundenen Buches; im Taschenbuch sind anscheinend keine Fotos veröffentlicht)

Ein Kommentar

  1. Hallo, mir geht es wieder so ähnlich wie dir, lieber Heiner beim Thema Zigeuner. Auch mich haben Zigeuner schon immer fasziniert, wenn auch oft manchesmal beängstigt/eingeschüchtert. Da gebe es viele Geschichten aus Kindheit und späteren Jugend.
    So ein bisschen wie ein Zigeunerleben gehörte schon immer zu unseren Urlaubsgewohnheiten. (alter Bus als Reisebusse mit allen Bequemlichkeiten-wie auch ein Zigeunerwagen ausgestattet) so lange es geht, werden wir weiter von Ort zu Ort im Reisebus gondeln und weitere kleine Welten uns erobern.
    Fast schon unwirklich war es im Sommer 15 in Bistritz, als wir auf einer unserer Rumanienreisen im Reisebus auf den „Nationalen Tag der Zigeuner aus Rumänien“ vollig unerwartet mittten in Bistritz trafen. Nach den offiziellen Redner traten Tanzgruppen in den wildesten und buntesten Farbtönen auf der sehr stabil gebauten Bühne vor dem imposanten sächsischen Gotteshaus auf. Ich war hin und weg. Wer Lust hat-kann sich ein paar Eindrücke auf YouTube unter meinem Namen -Roselinde Markel-holen. Ich kann nur sagen: Was Hänschen lernt, kann Hans bestimmt.
    Oder: früh übt sich, was ein Meister werden will.

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