Ina Tartler: Heimat – sie spricht durch mich

Ein imaginierter Reisebericht für den Radiosender Rai Südtirol

von Ina Tartler

 

7.8.

Heimat, Herkunft, Identität – dieser Zusammenhang betrifft jeden. Jeder Mensch braucht für seine Identität Heimat und Herkunft. „Jeder wurzelt in einem Boden. Jeder bezieht sich auf eine Gruppe. Jeder kommt aus einer Familie. Jeder lebt in einem Umfeld, ist auf Sicherheit und Vertrauen angewiesen. So ist der Mensch“, lese ich bei Christian Schüle. Er ist freier Autor und Publizist für renommierte Zeitungen wie „Die Zeit“ und „Le Monde“ und lehrt Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Sein gerade erschienenes Buch „Heimat – Ein Phantomschmerz“* hat mich in meinem Nachdenken über die eigene Heimat, Herkunft und Identität geleitet. Die Frage nach der Heimat, so der Autor, sei die drängendste in unserer von Digitalisierung, Globalisierung und Migration bestimmten Zeit. – Was ist Heimat? „Heimat ist Schicksal“, behauptet der 1970 geborene Christian Schüle zunächst, sie fällt einem zu. Man kann sich nicht aussuchen, wo man geboren wird. Man kann sich vielleicht aussuchen, wo man Zuhause sein möchte, man kann eine zweite, dritte oder gar vierte Wahlheimat für sich aussuchen, aber die primäre Heimat, die Heimat, die – wie der Autor so schön sagt – „durch mich spricht“, fällt einem zu. Wir werden unser ganzes Leben lang an diesen nicht selbst gewählten Ort erinnert werden, wir werden, ob wir wollen oder nicht, von diesem Ort her-kommen und von ihm mehr oder weniger stark geprägt sein. Ich verstehe diesen Gedanken gut. Ich spüre fast jeden Tag dieses Fremdsein. – Woher kommst du? Meine Antworten fallen unterschiedlich aus: Ende der 80er-Jahre und in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren die Menschen in Deutschland neugierig auf den Osten. Ich sagte als Studentin in München unbekümmert: „Aus Rumänien.“ In Südtirol antworte ich immer: „Aus Siebenbürgen.“ Den Italienern sage ich leicht verlegen: „Sono tedesca, nata in Romania. / Ich bin Deutsche, geboren in Rumänien.“ So ist das. Ein wenig „reiches“ Heimatland ist mir zugefallen. In Italien mag man es nicht wirklich.

 

8.8.

Heute ist der 8. August. Ich reise seit den frühen Morgenstunden mit meinem Vater in unsere alte Heimat nach Siebenbürgen in Rumänien. Wir fahren mit dem Auto, langsam, Kilometer für Kilometer. Zwei Tage wird diese Reise dauern. Sie führt mich zurück in die Heimat, in das Dorf meiner Kindheit. Nach Heldsdorf. Hier habe ich einundzwanzig Jahre gelebt, bevor meine Eltern sich entschließen konnten, Rumänien im Jahr 1988 für immer zu verlassen. Sie packten das Wichtigste in Kisten und Koffer, ließen Haus, Hof und Garten zurück. Das Ziel war Deutschland, eine bessere Zukunft für die eigenen drei Kinder. In der damals noch herrschenden Ceauşescu-Diktatur hatte man wenig zu hoffen, die deutschsprachige Bevölkerung noch weniger als die rumänische. – Nach dreizehn Jahren werde ich also den Ort meiner Geburt wiedersehen. Vielleicht sogar das Geburtshaus. Ich bin aufgeregt. Was wird mich erwarten? Was werde ich mit meinem Vater erleben? Wie werden die alten Plätze auf mich wirken. Werden sie fremd sein oder vertraut? Welche Gefühle, welche Erinnerungen werden wachgerufen? Wie wird es sein, wenn die Kirchenglocken läuten? Wenn ich die Straßen entlang spaziere? Wenn ich das Gassentor öffne und in den alten Hof blicke? Wenn ich den knorrigen Birnbaum mit der Steinbank im Garten wieder sehe? Wenn ich den Dorffriedhof besuche und das gerahmte Foto meiner verstorbenen Mutter neben das der Großeltern und Tanten an die Wand hänge? – Es spricht meine Heimat durch meine Worte. Wie schön, dass sich in meiner Wahlheimat Südtirol ein vertrauter Mensch gefunden hat, der meiner Heimat, in den Tagen, da ich unterwegs bin, im Radio eine Stimme schenkt. Dankbar und froh darüber werde ich heute Abend meinen müden Körper in einem ungarischen Ort kurz vor der rumänischen Grenze zur Ruhe legen.

 

9.8.

„So gut wie alle Wissenschaften vom Menschen (…) sind sich einig darin, dass die Identität eines Menschen in der Erzählung besteht, die ihm aus sich zu machen gelingt. Eine Person ist ihre Geschichte, und Heimat ist das Narrativ dieser Geschichte“, so Christian Schüle in seinem Buch „Heimat – Ein Phantomschmerz“. Ich googele das Wort „Narrativ“. In den Sozialwissenschaften versteht man darunter eine sinnstiftende Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es handelt sich nicht um eine beliebige Geschichte, sondern um eine, die mit einer Legitimität versehen ist. – Ich erinnere an dieser Stelle an die schöne Idee von Ute Hubbes, die Geschichten unseres Heimatortes zu sammeln. – Ich erzähle also von meiner Heimat, von mir, von meiner Realität, damit bekommt diese Glaubwürdigkeit. Über die Erzählung verwandele ich Herkunft in Identität. „Ich bin, was ich von mir erzähle“, fasst der Autor Christian Schüle kurz zusammen und leitet mit diesem knappen Satz ein großes Kapitel seines Buches ein, denn zu diesem Von-sich-Erzählen gehört zum einen die mir eigene Sprache – die Sprache meiner Heimat – und selbstverständlich die mir eigene Erinnerung. Genauso wie Heimat immer die eigene ist, gehört auch die Erinnerung dem Individuum allein. Der Akt des Erinnerns aber ist ein äußerst komplexer. Erinnerungsbilder sind urplötzlich da, sie tauchen unkontrolliert auf. Kein Verstand kann sie bändigen. Durch die Erinnerung erleben wir wieder. Wir erkennen wieder. Erinnerung ist Erkenntnis. Wir erfahren und erkennen, wer wir sind. An dieser Stelle aber, beginnt mein Schmerz. Ich war sehr lange nicht mehr in Siebenbürgen, habe mich sehr lange und vehement weggedreht von der eigenen Heimat und den Menschen, so dass mir gegenwärtig die eigene Geschichte nicht mehr glaubwürdig vorkommt. Ich werde mit der Reise nach Heldsdorf die Konturen meines Selbst wieder schärfen.

 

10.8.

Ich bin heute früh im Dorf meiner Kindheit in Siebenbürgen erwacht. Bei meiner Tante Sigrid. Sie hat sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Zurückgebliebenen im Dorf zu pflegen und zu verpflegen. Meine Tante kennt sich aus mit Krankheit und Tod. Sie arbeitet atemlos für andere, kümmert sich gemeinsam mit ihrem Mann Karl darum, das einst traditionsreiche Dorfleben irgendwie weiter am Leben zu erhalten. Heute hat sie alle Hände voll zu tun, da am Freitag das große Treffen beginnt. Für drei Tage kehren an die 300 Dorfbewohner aus Deutschland heim. Sie quartieren sich ein in den alten Höfen mit ihren neuen rumänischen Eigentümern, sie begrüßen sich, feiern Wiedersehen im Gemeindesaal. Die Blasmusik spielt, geprobt wurde vor allem in Deutschland. Es kommen alte Mitglieder der Gemeinschaft, aber auch junge, die schon in Deutschland geboren sind und ihre Wurzeln kennenlernen möchten. Sie machen Ausflüge in die Natur, zu umliegenden Sehenswürdigkeiten oder in die ehemals deutschen Städte. Es wird ein Fest werden. Sogar meine Jugendfreundin aus Tokyo trifft ein. Gemeinsam mit ihr werde ich die Dorfstraßen entlang spazieren und bereitwillig feinste Erinnerungen in Empfang nehmen. Wir werden unseren uralten deutschen Dialekt sprechen, der aus dem Luxemburgischen stammt und zuweilen eine Schweizer Sprachmelodie hat: Mår wardån iwår dåt Liewån riedån / Wir werden über das Leben sprechen. Wir werden die Spuren des Alters in unseren Gesichtern entziffern. – Als ich mit einundzwanzig Jahren mit der Familie ausreiste, war ich jung und wild. Ich hasste das Dorfleben, das viele Reden und Urteilen über andere, den Starrsinn so mancher Menschen, den Alkohol. Ich empfand alles zum Ersticken eng, das Dorf kam mir in der Jugendzeit vor wie ein mittelalterliches Gefängnis.

 

 

11.8.

Es lebten einmal ca. 750.000 Deutsche in Rumänien, davon etwa 300.000 Siebenbürger Sachsen. Sie haben sich im 12. Jahrhundert dort angesiedelt und ein blühendes Land aufgebaut: „Siebenbürgen, Land des Segens / Land der Fülle und der Kraft“, lauten die ersten Verse der Landeshymne der Siebenbürger Sachsen. Das berühmte „Siebenbürgenlied“ aus dem 19. Jahrhundert legt Zeugnis darüber ab, dass die Region seinen Menschen bis nach dem Zweiten Weltkrieg süße Heimat war, ein „teures Vaterland“. Mit dem Kommunismus ging nach dem Zweiten Weltkrieg die Verstaatlichung der Betriebe und damit die Enteignung der Siebenbürger Sachsen einher. Doch nicht genug. Es wurden viele Siebenbürger zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert. Aus unserer Familie wurde die Schwester meiner Mutter „ausgehoben“, auch der Großvater väterlicherseits. Beide haben das Arbeitslager überlebt. Der Großvater kehrte bis zur Unkenntlichkeit abgemagert heim ins Dorf, der Tante gelang beim zweiten Mal die Flucht nach Österreich. Auch überlebende siebenbürgische Soldaten des Zweiten Weltkriegs konnten nicht oder hatten Angst aus der Gefangenschaft nach Rumänien zurückzukehren, sie blieben in Deutschland und forderten ihre Familien in die neue Heimat. So begann in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts die sogenannte Familienzusammenführung. Ein Prozess, der zu einem knallharten Ausreisegeschäft führte, zum „Ausverkauf“ der Siebenbürger Sachsen. Deutschland hat in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts Kopfgeld – damals D-Mark – in Milliardenhöhe für die Freilassung der Rumäniendeutschen gezahlt. Hinzu kamen fette Summen privater Schmiergelder. Unsere Familie zahlte 30.000 D-Mark Schwarzgeld für den Pass. Mein Vater hat mir versprochen, sich an das Geschäft unserer persönlichen Ausreise genau zu erinnern, er wird mir erzählen, wie er die D-Mark in einer Konditorei in Kronstadt unterm Tisch überreichte, selbstverständlich ohne Quittung. Am 27. Mai 1988 stieg unsere Familie in den Zug Richtung Deutschland.

 

12.8.

Selbst wenn die Erinnerung an das, was als Heimat aus mir spricht nicht immer süß klingt wie die Lieder der Vorfahren, gehört sie zu mir. In den letzten Jahren wurde mir dies mehr und mehr bewusst. Zuerst war Abgrenzung notwendig, um als junger Mensch im Westen Neues, Anderes für mich zu entdecken. Jetzt holt mich die Zeit zurück, die Erinnerung, das Leben. Ich bin versöhnlicher geworden, glaube ich, auch mutiger, da die zum Teil dunklen Erinnerungen an meine Jugendzeit mich nicht mehr in den Grundfesten meiner Identität erschüttern können. Ich bin bereit für ALLE Schattierungen meiner Lebensgeschichte. Neugierig und kritisch, sensibel und zur Hingabe bereit stehe ich gemeinsam mit meinem bald achtzigjährigen Vater drei Tage lang inmitten der einstigen Dorfbewohner*innen. Sie sind in der alten Heimat zusammengekommen, um großes Wiedersehen zu feiern. Im Koffer habe ich ein Buch zum Thema „Heimat“, die ganz aktuelle und spannende Abhandlung von Christian Schüle, der über das, was Heimat und Heimatverlust für uns ALLE in Zeiten der Digitalisierung, der Globalisierung und der Migration bedeutet, sehr umfassend nachdenkt. Es geht nicht um den verhunzten, zigfach missbrauchten Begriff der Heimat, sondern um ein essentielles Bedürfnis. Heutzutage ist alles in stetem Fluss und Wandel, aber „eines bleibt in seiner ganzen Ungewissheit gewiss: die Heimat. Heimat ist das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt. Heimat ist dort, wo ICH bin“, schreibt der Autor am Ende seines Buches. Neben Rückbesinnung und Erzählung vom eigenen Gewordensein bedeutet Heimat heute auch „die Beschwörung der eigenen Geborgenheit und den Kampf gegen das Ungeborgene, egal, auf welchem Boden er stattfindet. Dem Heimatverlust steht ungebrochene Heimatlust entgegen.“ Auch das verstehe ich gut. Und ich möchte leben, wo ich verstanden werde. In Südtirol versteht man mich. Ich hoffe dies auch für andere.

 

München, den 3. August 2017

 

* „HEIMAT – Ein Phantomschmerz“ von Christian Schüle. Droemer Verlag 2017

 


Ina Tartler hat den imaginierten Reisebericht, der für Rai Südtirol entstand und in sechs Teilen an den jeweils angegebenen Tagen gesendet wurde, am Samstag, den 12. August 2017, nach dem Konzert des Ensembles Cantate Domino in der evangelischen Kirche in Heldsdorf vorgelesen. Die Fotos entstanden während der Lesung. Vielen Dank für die Lesung sowie die Bereitstellung des Textes zur Veröffentlichung!

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