Heldsdörfer Glocken von 1923 im Vogtland gegossen

Im Mai letzten Jahres hat der Förderverein die Broschüre „Die evangelische Kirche in Heldsdorf“ veröffentlicht. Der Text der Broschüre von Ute Hubbes ist erschien einige Wochen später auch online. Natürlich wurde auch die Geschichte der Glocken in dem Text thematisiert, schließlich ist diese sehr spannend. Zu den Glocken hieß unter anderem:

 „Im Jahre 1916 wurden die Glocken für Kriegszwecke beschlagnahmt. Trauernd nahm die Gemeinde Abschied. Heutzutage sind die alte Glocke aus Bronze und drei Glocken von 1923 aus Klangstahl im Kirchturm zu hören, die bei SCHILLING UND LANTERMANN in Apolda (Thüringen) gegossen und am 30. August 1923 geweiht wurden.“

 

Einbringen der neuen Glocken in Heldsdorf am 25.08.1923 (Quelle: Hans Zell)

 

Vor einigen Tagen wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass diese Passage in mehreren Punkten berichtigt werden muss. Heino Strobel aus Plauen vom Verein für vogtländische Geschichte e.V. war auf unsere Seite gestoßen und schrieb: 

„Gestatten Sie bitte, dass ich auf einen kleinen Fehler in Ihren Bericht über die Glocken der Kirche Heldsdorf hinweise: Die Feuer-, Schul- und Abendglocke aus Eisenhartguss von der Kooperation Schilling & Lattermann in Apolda und Mörgenröthe / Vogtland wurde nicht in Apolda, sondern im sächsischen Vogtland im Eisenwerk Lattermann in Morgenröthe gegossen. Von dort gingen die Glocken zur Glockengießerei Schilling nach Apolda, wo der Klöppel montiert wurde und von wo aus die Auslieferung an die Kunden erfolgte.“ 

Mit Herrn Strobel entwickelte sich danach ein reger Austausch. Wir werden die oben genannte Passage nach seinen Hinweisen zeitnah überarbeiten. Er beantwortete sehr viele Fragen und trug mit detaillierten Informationen dazu bei, nicht nur die Geschichte der „neuen“ Glocken in Heldsdorf besser zu verstehen, sondern auch aufzuzeigen, wie viele Glocken in Siebenbürgen in Sachsen gegossen wurden. Die folgenden Passagen entstanden zum Großteil auf Basis seiner Informationen.

Wie kam es dazu, dass die Heldsdörfer Glocken in Thüringen bestellten, die aber in Sachsen gegossen wurden?

Es ist davon auszugehen, dass nach dem ersten Weltkrieg der Preis sowie die stark eingeschränkte Verfügbarkeit von Kupfer und Zinn für den Guss von Bronzeglocken eine wesentliche Rolle dafür spielte, dass nicht nur die Heldsdörfer, sondern – wie später gezeigt wird – auch andere Gemeinden in Siebenbürgen und Rumänien Glocken in Apolda bestellten. Dort waren schon lange die beiden Glockengießereien Ulrich und Schilling angesiedelt. Durch den Mangel an Bronze mussten sie starke Rückgänge bei der Bestellung neuer Bronzeglocken befürchten, obwohl es zum Ersatz der im 1. Weltkrieg beschlagnahmten Glocken eine große Nachfrage gab. Heino Strobel berichtet:

„Seit 1845 wurden in Bochum Glocken aus Stahlguss hergestellt. Die hatten einen guten Ruf und waren deutlich preisgünstiger als Bronzeglocken. Nach der massenweisen Glockenbeschlagnahmung im 1. WK […] traten auch die Bronzeglockengießereien Ulrich und Schilling in Apolda auf den Plan, da sie auch in der Nachkriegszeit kaum neues Kupfer und Zinn für Glocken bekamen. Die Eigentümer der Gießereien waren zwar miteinander verwandt, aber recht verfeindet.

Sie suchten sich getrennt voneinander jeweils eine geeignete Eisengießerei, die weißes Gusseisen (Hartguss) verarbeiten konnten. So entstanden die offenen Handelsgesellschaften Ulrich & Weule in Apolda und Bockenem / Harz sowie Schilling und Lattermann in Apolda und Morgenröthe / Vogtland. Ulrich und Schilling gaben die Glockenrippen (Glockenkontur) vor, die dann Weule und Lattermann gossen. Die Komplettierung mit dem Klöppel und Auslieferung an die Kunden erfolgte ab Apolda. Ulrich & Weule hatte auch Zwischenhändler. Im süddeutschen Raum war das die Turmuhrenfabrik Hörz in Ulm, die es heute noch gibt.“

Details zu den von Apolda beheimateten Gießereien und ihren ausgehenden Kooperationen liefert auch Wikipedia im Eintrag „Glockengießerei in Apolda“.

Morgenröthe ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Muldenhammer im Vogtlandkreis in Sachsen, etwa 30 km von Plauen entfernt. Dort war bereits im 17. Jahrhundert ein Hammerwerk entstanden, das Ende des 18. Jahrhunderts in den Besitz der Familie Lattermann kam. In den 1860er Jahren entwickelte sich Lattermann ein zusätzliches Standbein und begann, Glocken aus weißem Gusseisen (Eisenhartguß) für profane Einsatzbereiche zu gießen. So war Lattermann ein attraktiver Partner für Schilling geworden für Kirchenglocken aus Eisenhartguss.

Wikipedia weiß zu der Zusammenarbeit von Schilling & Lattermann:

„Um die Lücken im Glockenbestand der Nachkriegszeit wieder zu füllen, gründeten der Glockengießermeister Otto Schilling und der Hammerwerksbesitzer Gottfried Lattermann in Morgenröthe-Rautenkranz im Vogtland 1918 eine OHG zum Zwecke des Gusses und Vertriebs von Hartgussglocken für Kirchen, Schulen und ähnlicher Einrichtungen unter der Firmenbezeichnung „Schilling & Lattermann“. Der Sitz war Apolda, die Dauer der Zusammenarbeit bis 1927 festgelegt, sie bestand jedoch bis 1966. Die Führung der Geschäfte stand nur dem Gesellschafter Schilling zu, der den gesamten Vertrieb der Glocken, die Werbung, die zur Erlangung von Aufträgen erforderlichen Reisen, den Abschluss der Lieferverträge und dergleichen übernahm.

Lattermanns Verpflichtung war, sämtliche in Auftrag gegebene Glocken in seinem Morgenröther Werk nach den Angaben und Entwürfen von Schilling gießen zu lassen. Die dort gegossenen Glocken wurden nach Apolda gebracht und in der Schmiede und Schlosserei mit Armaturen und Glockenstühlen versehen.“

Quelle: Schilling & Lattermann, 1921, Klangstahlglocken, S. 20

Heino Strobel erklärt den Erfolg der Glocken aus Eisenhartguss wie folgt:

„Mit diesem Eisenhartguss konnte man selbst noch die Preise der Stahlglocken unterbieten. Man wollte sich aber auch mit dem Klang der Eisenhartguss-Glocken im guten Ruf der Stahlglocken „sonnen“. So kam man auf die für mich in keiner Weise zu rechtfertigende Idee, den Glockenwerkstoff nicht korrekt als „Eisenhartguss“ zu bezeichnen, sondern erfand den Phantasienamen „Klangstahl“. Um 1929 hat das Werk in Bochum gerichtlich den Gebrauch dieser irreführenden Werkstoffbezeichnung untersagen lassen.“

Nach dem zweiten Weltkrieg kamen Umwälzungen auf die Familie Lattermann zu. Sie wurde enteignet, die Gießerei ging in staatlichen Besitz über. Gottfried Lattermann, der letzte Hammerherr von Morgenröthe, wie die Besitzer des Hammerwerkes genannt wurden, starb 1950. Sein Grab ist erhalten und wird vom Heimatverein Morgenröthe-Rautenkranz gepflegt. In seiner Zeit war die Kooperation mit der Firma Schilling entstanden und wurden die Heldsdörfer Glocken gegossen. 1968 vernichtete ein Brand die Gießerei, die nicht wieder aufgebaut wurde.

 

Welche Gemeinden aus Siebenbürgen beziehungsweise Rumänien haben ebenfalls Glocken von Schilling & Lattermann?

Die evangelische Kirchengemeinde Heldsdorf war nur einer von vielen Kunden von Schilling & Lattermann. Eine ganze Reihe von Gemeinden aus Rumänien bestellte neue Glocken in Thüringen. Warum das so war – es gab auch in anderen Ländern noch mögliche Bestelladressen – ist nicht überliefert. Möglicherweise gibt es hierzu Unterlagen in Heldsdorf. Das wird der nächste Besuch dort zeigen.

Die nachfolgende Tabelle wurde dem 1925 erschienenen 2. Lieferkatalog der Gießerei Schilling & Lattermann entnommen. In der ersten Spalte werden die Empfänger der Glocken wiedergegeben, in der zweiten die Tonlagen der bestellten Glocken, in der dritten Spalte das Gesamtgewicht der Bestellung.

 

Tabelle: Geplante oder umgesetzte Glockenlieferungen der Firma Schilling & Lattermann nach Rumänien in den Jahren 1921 bis 1926 (Quelle: Schilling & Lattermann, 1925, Klangstahlglocken, S. 70-72)

Ort und Kirche Töne Gewicht in kg ca.
Abtsdorf, Rumänien, Evang. Kirche a e 800
Agnetheln, Rumänien es c 2300
Atosfalva, Rumänien f a 300
Baimaelia, Rumänien d fis 400
Bekokten, Rumänien cis 300
Birda, Rumänien es 200
Bistritz, Rumänien g d 1100
Blutroth, Rumänien des 300
Botsch, Rumänien e 1300
Broos, Rumänien b d 750
Camtceatca, Rum., orthod.-rum. Kirche fis a 200
Cata, Rumänien, orthod.-rum. Kirche ais fis 600
Csepan, Rumänien b 500
Csókfalva, Rumänien, Reform. Kirche dis 200
Curtuiuseni, Rumänien c 300
Denndorf, Rumänien fis a 1730
Denta, Rumänien b a 680
Deta, Rumänien fis gis h 1900
Deutsch-Zepling, Rumänien e h 2000
Dolati, Rumänien b d 750
Duerrbach, Rumänien g a 1500
Durles, Rumänien f as 220
Felldorf, Rumänien a 620
Felsötorja c 350
Fenyéd, Rumänien g 750
Gießhübel, Rumänien h 430
Großpold, Rumänien f a 2000
Groß-Scham, Rumänien g 900
Heldsdorf, Rumänien des f as 4800
Hidalmas, Rumänien e gis 300
Honigberg, Rumänien e gis 2400
Jacobeni, Rumänien e 1350
Jacobsdorf, Rumänien h d 680
Karatna, Rumänien e 350
Kastenholz, Rumänien b 500
Katzendorf, Rumänien b es 700
Kezdimartonfalva, Rumänien e 350
Kirlibaba, Rumänien dis fis 340
Kronstadt, Rumänien, St. Bartholom. es g b 3300
Kronstadt, Rumänien, Martinsberg des f 450
Kronstadt, Rumänien, St. Joh. f a 200
Madéfalva, Rumänien des 300
Marpod, Rumänien f a 1700
Meschen, Rumänien des f as 4800
Mikonufalu, Rumänien, Kath. Kirche des f 450
Neustadt, Rumänien g e 1080
Radeln, Rumänien a cis 900
Rätsch, Rumänien h fis 450
Rothbach, Rumänien a c 800
Rumes, Rumänien a 620
Schlatt, Rumänien b es 700
Schoresten, Rumänien a c 800
Senndorf, Rumänien f 1350
Sepsiköröspatak, Rum., Ref. Kirche e g 300
Sepsiköröspatak, Rumän., Evang. Kirche d 250
Szarhégy, Rumänien, Röm.-Kath. K. e h cis 2000
Szotjor-Coseni, Rumänien c e 500
Treppen, Rumänien a cis 900
Waldhütten, Rumänien g 900
Wallendorf, Rumänien f d 1700
Weidenbach, Rumänien e gis h cis 3000
Windau, Rumänien as des 1100
Wolkendorf, Rumänien f a 2000

 

Wie die Tabelle zeigt, war die evangelische Kirchengemeinde Heldsdorf einer der großen Kunden von Schilling & Lattermann. Die Gießerei lieferte drei Glocken mit einem Gesamtgewicht von rund 4.800 kg nach Heldsdorf: die Große oder Mittagglocke (2.734 kg), die Feuer-, Schul- oder Abendglocke (1.294 kg) und die kleine Glocke (Klingel, 745 kg). Die Glocken legten das erste und das letzte Wegestück per Pferdefuhrwerk zurück: Heino Strobel dazu: „Von der Gießerei in Morgenröthe wurden die Glocken per Pferdefuhrwerk zur nächsten Bahnstation in Rautenkranz gebracht. Von dort gingen sie per Bahn nach Apolda zu Schilling auf den Ausrüstungsplatz.“ Von Apolda kamen die „[…] Glocken per Bahn bis Station Brenndorf und wurden von dort mit Fuhrwerken abgeholt“, wie Karl-Heinz Brenndörfer ergänzte.

Der Klang der Heldsdörfer Glocken von Schilling & Lattermann ist übrigens auf der Seite der Heimatgemeinschaft Heldsdorf dokumentiert.

Natürlich wurden auch nach 1926 noch Glocken in Morgenröthe gegossen und über Apolda vertrieben. Hierzu fehlen jedoch weitere Informationen. Und natürlich gingen von Schilling & Lattermann auch Glocken in Kirchen in Deutschland oder im weiteren europäischen Ausland. Zudem wurden noch wesentlich größere Glocken als jene für Heldsdorf gegossen. Heino Strobel dazu:

„Die größten Einzelglocken von Schilling & Lattermann mit je 8.300 kg wurden 1926 und 1927 an zwei Kirchen in Riga geliefert. Die größte Schilling & Lattermann-Glocke in Deutschland mit ca. 6.500 kg hängt in der Kreuzkirche in Berlin-Schmargendorf. Sie stürzte 2008 ab und soll am 31.10.2017 nach Erneuerung des Glockenstuhls wieder angeläutet werden.

Hier kann man das größte Geläut von Schilling & Lattermann in Deutschland sehen und hören. Es hat eine Masse von insgesamt 12.500 kg und stammt aus dem Jahr 1927:“

 

1972 wurde übrigens auch die Glockengießerei Schilling zwangsenteignet und in den VEB Apoldaer Glockengießerei überführt. Das Ehepaar Peter und Margarete Schilling, das formell im Betrieb weiterbeschäftigt wurde, musste dem stetigen Verlust der Qualität zuschauen und verließen das Unternehmen. 1988 wurde die mittlerweile in ein Kombinat integrierte Glockengießerei geschlossen. Geblieben von der Tradition des Glockengießens in Apolda ist lediglich das Glockenmuseum. Schade.

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