Ina Tartler: Wie der Himmel im September

Ein „Reisebericht“ für den Radiosender Rai Südtirol

von Ina Tartler

1.

„Den Baum habe ich gepflanzt“, sagte mein Vater fast beiläufig, als wir Mitte August vor unserem Haus im Dorf meiner Kindheit in Siebenbürgen standen. Ich war überrascht, dass er hier einen Baum gepflanzt hatte und gerührt, da wir schon so viele Jahre nicht mehr in Rumänien leben. Unsere Ausreise liegt fast 30 Jahre zurück. Ich war 21, als meine Familie die Koffer packte und den Zug Richtung Deutschland bestieg, um dort eine neue Heimat zu finden. Eine Zukunft für uns Kinder. Der Baum steht also da – wie ein stummes Mahnmal unserer Geschichte. Er verweist schweigend auf das Schicksal der Siebenbürger Sachsen, einer deutschen Minderheit im Südosten Europas, die Jahrhunderte hier gelebt hat und die es so nicht mehr lange geben wird. Wir wurzeln in diesem Boden. Jedoch wohnen in meinem Heimatdorf nur noch 58 Sachsen, es waren einmal 1800. Unseren Siebenbürgischen Dialekt hört man nicht mehr auf den Straßen, man trifft keine bekannten Gesichter mehr, das Dorf hat sich verändert. Was bleibt, ist die Erinnerung. Und um sie geht es in den nächsten Sendungen. Ich erzähle von meiner Reise nach Siebenbürgen, was ich diesen Sommer wirklich dort erlebt und erinnert habe. Dabei stütze ich mich nicht nur auf die eigene Wahrnehmung, sondern auch auf Erkenntnisse von Aleida Assmann. Sie ist Anglistin, Ägyptologin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Seit den 1990er Jahren ist ihr Forschungsschwerpunkt die Kulturanthropologie, insbesondere die Themen kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen. Um mich selbst nicht zu vergessen, machte ich im August gemeinsam mit meinem Vater diese Reise nach Rumänien, in das Dorf meiner Kindheit, nach Heldsdorf in Siebenbürgen. Ich wollte wieder genauer von mir erzählen können. Ich wollte meine Wurzeln spüren, ich wollte gemeinsam mit 350 anderen ehemaligen Dorfbewohnern Wiedersehen feiern in der alten Heimat.

 

 

2.

„Erinnern, sei es als Individuum oder als Gruppe, ist eine anthropologische Universalie“, betont Aleida Assmann in ihrem Buch „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“* aus dem Jahr 2013. Dieser Gedanke sei uralt, schreibt sie, doch immer wieder gäbe es Zeiten, die ausschließlich in die Zukunft ausgerichtet seien, in denen die Vergangenheit darum „keine Ressource mehr für die Gegenwart darstellen kann“ und „der menschlichen Fähigkeit der Erinnerung keine große soziale oder gar kulturschaffende Bedeutung zugeschrieben“ wird. Der Kommunismus in Rumänien war so eine diktatorische Zeit. Ich habe ihn 21 Jahre lang erlebt. Es wurden über alle Kanäle eindimensionale Botschaften und Programme in die Welt gesetzt, es wurde ständig von Fortschritt, Aufbau, Voranschreiten, ja sogar von Licht gesprochen, von einer strahlenden Zukunft, vom neuen Menschen. Dieser sollte nur in eine Richtung blicken. Er sollte arbeiten und nicht denken. Geschweige denn sich erinnern, wer er ist oder einmal war. Auf den Straßen in Kronstadt geschah es nicht selten, dass seltsame Beamte einen nach dem Arbeitsausweis fragten. Die Identitätskarte wär weniger wichtig. Die Menschen wurden klein gehalten, gleich geschaltet, ihre Individualität war nicht gefragt. Ganz im Gegenteil. „Im Rahmen einer Erinnerungskultur (aber) wird Individuen, Gruppen und Kulturen ein grundsätzliches Menschenrecht auf eine eigene Perspektive, Erfahrung und ‚Identität‘ zugesprochen“, so Aleida Assmann. Dieses sich Erinnern ist nun wieder möglich in Rumänien. Und so kam es, dass der Staatspräsident Rumäniens Klaus Johannis, die rund 14.000 tausend aus Deutschland zurückgekehrten Siebenbürger Sachsen Mitte August diesen Jahres beim Sachsentreffen in Hermannstadt von Herzen willkommen heißen konnte.

3.

In diesem Sommer hielt der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis anlässlich des Siebenbürger Sachsentreffen am 5. August in Hermannstadt eine historische Rede. 14.000 aus Deutschland „heimgekehrte“ Sachsen waren in Trachten aufmarschiert und hörten gespannt zu. Der Präsident sprach abwechselnd in deutscher und rumänischer Sprache, er drückte seine große Freude aus über die vielen Menschen am Großen Ring, über die zahlreichen jungen Leute, die schon in Deutschland geboren wurden und mit ihren Eltern angereist waren, um in diesen Tagen ihre Siebenbürgischen Wurzeln kennenzulernen. Klaus Johannis erinnert in seiner Rede an das Unrecht, das den Siebenbürger Sachsen nach dem 2. Weltkrieg in Rumänien widerfahren war, er erinnerte an Deportation, Ausgrenzung und Enteignung und bittet alle Zuhörenden, Rumänien heute als einen „Ort der Chancen und des Wohlstand wiederzuentdecken“. Er beschließt seine Rede mit folgenden Worten: „Ich fordere Sie auf, sich diesem Projekt der Freiheit und der Toleranz anzuschließen, denn ganz gleich woher Sie heute nach Hermannstadt gekommen sind, Sie sind als Siebenbürger Sachsen hier zu Hause!“ Auch mir kamen bei diesen Worten – ehrlich gesagt – die Tränen. Ich saß vorm Computer in Deutschland. Noch war ich nicht mit meinem Vater unterwegs in die Heimat. Das Treffen unserer kleinen Dorfgemeinschaft fand eine Woche nach dem Riesentreffen am Großen Ring in Hermannstadt statt. Wir wollten den großen Trubel nicht mitmachen, wir wollten uns ganz ruhig auf die Spuren der eigenen Erinnerung begeben, langsam unsere vergangenen Erlebnisse vergegenwärtigen. „Denn Erinnern ist Vergegenwärtigung von Vergangenheit“, so Aleida Assmann. Wir erinnern uns in der Gegenwart, sie ist der Kontext für die Rekonstruktion der Vergangenheit. Diese Rekonstruktion ist „hochgradig selektiv und stets an aktuelle Bedürfnisse und Ansprüche des Einzelnen und der Gruppe gebunden“, so Aleida Assmann, sie spricht von der „lebendigen Erneuerung von Vergangenem“.

 

4.

„Nimm deine Sonnenbrille ab“, sagte meine Jugendfreundin aus Japan, „das ist doch euer Haus“. Es dauerte kurze Augenblicke, bis ich es wiedererkannte. Sie hatte Recht. Wir standen vor dem Haus meiner Kindheit, ich hatte es nicht auf Anhieb erkannt. Die Tanne vor dem Gassentor stand nicht mehr da. Auch der Fliederbaum vor dem Fenster war weg. Die Mauern waren jetzt weiß gestrichen und das Gassentor ist nicht mehr rötlich-braun und aus Holz wie früher. War das Gärtchen vor den Fenstern zur Straße noch da? Ich schaue ins Fotoalbum meines Handys. Ja, das Gärtchen ist noch da. Aber die Rose, die meine Großmutter in dieses Gärtchen einmal gepflanzt hatte, blüht heute im Garten meiner Tante Hildegard im bayerischen Kaufering. Davor blühte die Rose im Garten meiner Tante Martha im Schwarzwald. Sie hatte die Knolle vor Jahren ausgegraben und mitgenommen nach Deutschland. Und als sie altersbedingt wegzog aus dem Schwarzwald, wanderte die Rose nach Kaufring. Im Wohnzimmer meiner Eltern hängt ein Gemälde von jener wichtigen, hellgelben Blume. Meine Tante Marta war leidenschaftliche Malerin, sie schuf dieses symbolträchtige Erinnerungsbild für meine Mutter. – „Erinnern bedarf der Darstellung“, lese ich bei Aleida Assmann. Man kann nicht eine Zeitreise in die Vergangenheit machen wie in einem Science-Fiction-Film. Was Vergangen ist, ist vergangen. Wenn wir uns erinnern, haben wir es also nie mit der Vergangenheit an sich zu tun, sondern mit Repräsentationen von ihr. In meinem Fall mit einem Foto in meinem Handy, mit einem Gemälde im Wohnzimmer der Eltern, mit dem hier und jetzt entstehenden Text. Wir bilden Vergangenheit nicht eins zu eins ab, sondern modellieren, deuten, konstruieren sie. „Lass uns weiterfahren“, sagte ich zu meiner Freundin. Wir waren mit den Fahrrädern den ersten Morgen unterwegs in unserem Dorf, wir wollten die Hot Spots unserer Kindheit und Jugend aufsuchen. Erstes Ziel war der Neudorfer Wald.

 

5.

Weißt du noch, hier…. Hier war doch…. Hier stand doch… Ich fuhr mit meiner Jugendfreundin aus Japan auf Fahrrädern die Dorfstraßen unserer Kindheit hinaus. Wegwarten säumten die Straßen. „Das Blau ihrer Blüten ist wie der Himmel im September“, sagte sie. Wir fuhren zum nahegelegenen Wald, zum Bach, in dem wir früher gebadet hatten, zur Kuhweide, zur Mühle, zum Friedhof, in den Park. Wir machten oft Halt, um zu schauen, zu fühlen, zu riechen. Oder im Grün ein bisschen zu liegen. Jahrzehnte waren vergangen, seit wir nicht mehr hier waren. Jetzt legten wir unsere Erinnerungen zusammen. Wir kamen an der verfallenen Kaserne vorbei, in kommunistischen Zeiten waren hier hunderte Soldaten untergebracht. Sonntags gingen sie immer ins Kino. Aus den Pferdewagen schauten uns Zigeunerkinder nach, manche hatten im Ausland ein paar Brocken Deutsch gelernt. Dann besuchten wir den Friedhof. Unsere Urgroßeltern und Großeltern liegen hier, unsere Mütter sind in Deutschland begraben. Trotzdem hängen viele Menschen die Fotos ihrer fern der Heimat Verstorbenen am alten Friedhof auf, obwohl seine Mauern bröckeln, obwohl die Grabstätten Risse bekommen haben, obwohl die Fotos rundum verblassen. Plötzlich entdeckten wir einen jungen Mann, der mit nacktem Oberkörper eine Grabstätte zitronengelb strich. Er habe sächsische Wurzeln, sagte er auf Rumänisch, und würde die Grabstätte für sich renovieren. Wem sie einmal gehört habe, wisse er nicht. Sie sei jedenfalls von einem Dorfbewohner leergeräumt worden. Am selben Abend erfuhr ich beim freudigen Wiedersehen der Dorfgemeinschaft im Gemeindesaal, dass dieser Dorfbewohner die Sargbretter verheizt, um damit Schnaps zu brennen.

 

6.

Am Sonntag, den 13. August 2017, waren die Reihen in der Dorfkirche von Heldsdorf in Siebenbürgen voll besetzt. Obwohl an den Tagen davor und die ganze Nacht lang getanzt und Wiedersehen gefeiert wurde, konnte der Pfarrer an diesem Morgen auf über dreihundert Menschen von der Kanzel blicken. Ein seltenes Bild. Denn an anderen Sonntagen unterm Jahr sitzen in der Kirche nur eine Handvoll Leute. Unter ihnen meine Tante Sigrid, die an allen Fronten für den Fortbestand des einst so traditionsreichen Lebens im Dorf sorgt. Was die Zukunft bringt, ist ungewiss. „Kauft Boden zurück“, schlug der Pfarrer von der Kanzel vor. Man spürte trotz der allgemeinen Wiedersehensfreude eine Melancholie unter den Menschen. Vielleicht hätte man doch bleiben sollen, alles aushalten müssen.

Am Tag vor unserer Rückreise nach Deutschland besuchte ich mit meinem Vater schließlich unser ehemaliges Haus. Die neuen rumänischen Besitzer begrüßten uns herzlich, sie servierten uns Krautwickel in der alten Küche. Sie zeigten uns alle Zimmer, den Dachboden, den Keller und Garten, auch die neu entstandene Straße hinter den Gärten. Der knorrige Birnbaum steht übrigens nicht mehr da. Vor dem Haus aber wächst wie ein stilles Mahnmal unserer Geschichte der von meinem Vater vor Jahrzehnten gepflanzte Kastanienbaum. Noch einmal Aleida Assmann: „Das Neue an der Erinnerungskultur ist ihr ethischer Rahmen“. Im Lateinischen stehe für das Wort „erinnern“ zumeist das Wort „monere“, schreibt die Autorin, und dieses bedeute ursprünglich „ermahnen“. Erinnerung kann „einen schwierigen Prozess der Selbstkritik einleiten und mithelfen, die Würde entrechteter Gruppen wiederherzustellen und soziales Vertrauen zu stärken“, schreibt sie und zitiert am Schluss Elias Canetti, der sagt „Vorbei ist nicht vorüber.“ „Mit dieser Überzeugung beginnt“ laut Aleida Assmann „eine neue Zeitrechnung im Rahmen der Erinnerungskultur“.

* Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. C. H. Beck München, 2013

 

 


Ina Tartler hatte bereits im Vorfeld der Reise nach Siebenbürgen einen imaginierten Reisebericht für Rai Südtirol in sechs Teilen angefertigt. Der hier dargestellte Text entstand nach der Reise und ist ebenfalls für Sendungen im Radio Rai Südtirol entstanden. Auch die Bilder des Beitrags stammen von Ina Tartler bis auf das Trachtenbild vom Sachsentreffen in Hermannstadt. Liebe Ina, vielen Dank für die bereichernden Gedanken, die Fotos sowie die Bereitstellung des Textes zur Veröffentlichung!

 

 

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