Das Bestattungsbrauchtum in Heldsdorf

Aus einem Interview mit dem Leichenbitter Hans-Otto Scheip – Ergänzende Ausführungen von Hans Zell

Während der Mitgliederversammlung des Fördervereins am Spitzingsee im Sommer 2018 hatten Carina Mooser, Sabine Wagner und ich die Gelegenheit, mit Hans-Otto Scheip („Otti“) über das Bestattungsbrauchtum in Heldsdorf und über Ottis Erinnerungen als Leichenbitter/Totenansager (Heldsdörferisch Lëischenhoischer) aus der Zeit zwischen den Jahren von 1972 bis 1984 zu sprechen. Weiterhin war Hans Zell so freundlich und hat uns seine Ausführungen zu den Ritualen des Lebens zukommen lassen. Auch diese sind in den vorliegenden Artikel eingegangen.

Ebenso wie eine Reihe anderer spezifischer Traditionen zeugt auch das Bestattungsbrauchtum davon, wie die Heldsdörfer Sachsen auf ihre Art und Weise den Alltag und die Rituale zu den Stationen ihres Lebens organisierten. Die Verschriftlichung des Interviews, gepaart mit den Ausführungen von Hans Zell, sind der erste Teil einer Reihe von dokumentierten Erinnerungen an Rituale und Bräuche der Heldsdörfer. Für Ergänzungen, Berichtigungen oder genauere Ausführungen steht die Kommentarfunktion zur Verfügung.

Das Leichenbitterwesen in der Nachbarschaft

In Heldsdorf gab es bis in die neunziger Jahre vier Nachbarschaften, die auch als Quartale bezeichnet wurden. Die Nachbarschaften hatten in jüngster Zeit hauptsächlich die Aufgabe, Beerdigungen zu organisieren und kamen bei Arbeiten an der Kirche, am Pfarrhaus und weiteren kirchlichen Einrichtungen zum Einsatz.

Die Nachbarschaften wurden vom Nachbarvater geführt. Der Nachbarvater und der Leichenbitter sowie deren jeweilige Stellvertreter wurden alle vier Jahre während der jährlich im Winter stattfindenden Versammlungen zu den Quartalsrechnungen (Richttage) gewählt. Gewählt wurden auch die Helfer, die die Nachbarväter bei der Organisation und Vorbereitung der Quartalsrechnungen unterstützten. Die Quartalsrechnungen, während denen auch die Verstorbenen geehrt wurden, fanden früher im Kleinen Saal in der Niedergasse, in späteren Jahren im Großen Saal im Lehrergässchen, bei gemütlichem Beisammensein und Tanz statt.

Otti wurde während seiner Zeit in Heldsdorf für drei „Touren“ in Folge in das Amt des Leichenbitters gewählt und hat somit zwölf Jahre lang dieses Amt ausgeübt. Otti war in dem Quartal tätig, das die Mühlgasse, die Neugasse sowie einen Teil der Türkgasse umfasste. Dadurch, dass Otti als Zuckerbäcker in Heldsdorf arbeitete, konnte er direkt zur Stelle sein, wenn er gebraucht wurde. Dies kam der Ausübung seiner Aufgabe als Leichenbitter, die im Wesentlichen darin bestand, die Anverwandten des Verstorbenen um die Freigabe des Leichnams zu bitten, sehr entgegen.

Die Organisation des Bestattungswesens

Während es früher, noch vor Ottis Zeit, einmal einen Friedhofsgräber gegeben hatte, fiel diese Aufgabe später, ebenso wie das Bereitstellen von Sargträgern, der Nachbarschaft zu.

Die Beisetzung von Verstorbenen fand in den Erdgräbern oder den Gruften statt. Die Gräber wurden immer von vier Personen ausgehoben und die Gruften von vier Helfern geöffnet. Der Dienst als Grabgräber und Gruftenöffner wurde reihum in der Quartalsliste vergeben. Die Aufgabe selbst konnte teilweise anstrengend sein, wenn beispielsweise starker Regen nach dem Ausheben die Erde wieder hinunterwusch oder im Winter der gefrorene Boden teils über zwei Tage aufgegraben werden musste. Die Sargträger wurden vom Nachbarvater bestellt. Wenn ein Träger an der Reihe war und verhindert war, war es seine eigene Aufgabe, einen Ersatzträger zu besorgen. Auch die Aufgabe als Sargträger, so erinnert sich Otti, konnte fordernd sein, da der Leichenzug, auch bei einem Wechsel der Sargträger, nie zum Stehen kommen sollte. Dennoch war dies für Otti ein schöner Brauch, den man sich heutzutage in Deutschland nur schwer vorstellen kann, und der die Gemeinde zusammenschweißte.

Blick auf die Familiengruften hinter den Arkaden

Musste für eine Beisetzung in einer Gruft zunächst Platz für einen hinzukommenden Sarg geschaffen werden, war das eine Aufgabe der hinterbliebenen Familie selbst. Im Falle von Carina Moosers Familiengruft lag der zuletzt beigesetzte Sarg in der Mitte zwischen den älteren, jeweils rechts und links übereinanderliegenden Särgen. Sollte ein neuer Sarg hinzukommen und war kein Platz mehr in der Gruft, so wurden der älteste Sarg der Gruft geleert und die Holzbretter des Sargs verbrannt. Der Schmuck, mit dem die Verstorbenen in früherer Zeit teilweise noch beigesetzt wurden, wurde entnommen und die im Sarg enthaltenen Gebeine wurden in einen Hohlraum in der Wand der Gruft gelegt. Dort befanden sich auch die Gebeine weiterer Vorfahren. Der zuvor mittig liegende Sarg kam nun auf die Seite zu den anderen Särgen. Auf diese Weise war in der Mitte wieder Platz für einen neuen Sarg. Das Gesicht der Verstorbenen im Sarg wurde bei der Bestattung so ausgerichtet, dass es nach Osten blickte.

Die Verstorbenen wurden in früherer Zeit noch in ihrer Tracht beigesetzt. Handelte es sich um eine Frau, so wurde die Spitze ihrer Schürze zwischen das Unterteil des Sargs und den Sargdeckel geklemmt, sodass diese bei geschlossenem Sarg heraushing.  Als Carinas Vater im Jahr 1989 beigesetzt wurde, war während der Arbeiten in der Gruft die Schürzenspitze von Carinas Urgroßmutter immer noch intakt und gut zu erkennen.

Ableben eines Menschen, Aufbahrung und Totenwache

Starb ein Mensch, so pflegten manche Menschen den Brauch, zunächst die Fenster zu öffnen, um „der Seele des Menschen den Weg nach draußen“ zu ermöglichen. Um sicherzugehen, dass es sich auch wirklich um einen Todesfall handelte, wurde der Verblichene solange bewacht, bis der Arzt kam und den Tod feststellte. Weiterhin war es üblich, die Spiegel mit einem schwarzen Tuch zu verhängen und einige Leute pflegten den Brauch, die Pendeluhren zum Todeszeitpunkt anzuhalten.

Nach dem Ableben eines Menschen wurde die Totenwache abgehalten. Dies geschah in der Regel im Hause des Verstorbenen, gelegentlich (zum Beispiel bei Platzmangel) auch in der Friedhofskapelle. Um den Tod des Gemeindemitglieds zu verkünden, ging zunächst im Quartal des Verstorbenen, anschließend in den anderen drei Quartalen, ein Täfelchen mit der Todesnachricht herum. Auf dem Täfelchen war zu lesen, an welchem Tag und um wieviel Uhr die Beerdigung stattfinden sollte und auch wo der Tote aufgebahrt war.

Vor der Totenwache wurde der Verstorbene zunächst hergerichtet. Er wurde gewaschen, mit Formaldehyd („Formol“) prepariert und seine Tracht wurde ihm angezogen. In früherer Zeit wurden teilweise auch noch Fotos von den Toten im Sarg und auch von der Beisetzung gemacht. Hiervon zeugen Aufnahmen, die im Besitz von Carinas Familie sind. Das Herrichten des Leichnams erfolgte durch die Hinterbliebenen, die zum Beispiel durch Michael Stoff oder auch die Mutter von Otti unterstützt wurden.

Die Totenwache wurde für die Zeit von drei Tagen abgehalten. Die Aufbahrung erfolgte im größten Haus des Hofes, auf dem der Verstorbene gelebt hatte. Dort wurden die Zimmer geräumt und das Schlafzimmer für die Aufbahrung des Sargs vorgesehen. Die Aufbahrung zuhause bot den nahen Angehörigen die Möglichkeit, in Ruhe und aus nächster Nähe Abschied von dem Verstorbenen zu nehmen. Vor den Sarg und auch in die anderen Zimmer wurden Stühle für die Anteilnehmenden aufgestellt. Durch Glockengeläut wurde verkündet, dass im Trauerhaus zu Kondolenzbesuchen eingeladen ist. So kamen von nachmittags an bis abends um 8 Uhr die Verwandten und Bekannten der Familie vorbei, um ihr Beileid zu bekunden. Dabei saßen die nächsten Verwandten in der ersten Reihe vor dem Sarg und die anderen Trauernden weiter hinten. Hier verweilten die Leute in aller Stille oder sprachen über den Verstorbenen und sein Leben. Ein solcher Besuch dauerte zwischen einer halben und einer ganzen Stunde und führte zu einem regen Ein und Aus im Hause des Toten. Während der Totenwache stand der Sarg zu Beginn geöffnet da. Später, sobald man sah, dass sich der Tote verfärbte, wurde der Sarg verschlossen, um „die Person in guter Erinnerung zu behalten“. Eventuell auftretender Leichengeruch wurde durch Räucherwerk im Zimmer überdeckt.

Wenn es am dritten Tag soweit war und die Beisetzung um 14 Uhr stattfinden sollte, ging Otti als Leichenbitter mitsamt Helfern der Nachbarschaft eine Stunde vor der Beisetzung zum Haus der Familie und manchmal auch zur Kapelle, falls der Tote bereits dorthin getragen worden war. Im Haus bat er die Anverwandten um die Freigabe des Leichnams, was für Otti stets ein bewegender Moment war. Die Bitte um die Freigabe des Leichnams begleitete er als Leichenbitter mit einem von zwei Versen, die er von Hans Mooser („Mozart“) gelernt hatte:

„Das arme Menschenherz hienieder von manchem Sturm bewegt, erlangt den wahren Frieden erst, wenn es nicht mehr schlägt.“

Im Anschluss wurde der Sarg mit Unterstützung der Träger in den Hof gebracht und dort auf zwei Bänkchen, in späteren Jahren auf einen Wagen, gelegt. Dies wurde vor der Ankunft des Pfarrers erledigt, damit bei der Ankunft des Pfarrers alles feierlich aussah.

Trauermarsch und Beisetzung

Zur Beerdigung versammelte sich der Kirchenchor im Proberaum des Pfarrhauses. Mit dem Pfarrer, dem Kirchenkurator und der Blasmusik „Adjuvanten“ ging die Gruppe dann gemeinsam zum Trauerhaus. Dort segnete der Pfarrer den Ausgang und der Chor sang, begleitet von der Blasmusik, den Choral „Wohl auf, wohl an zum letzten Gange“. Der Sarg wurde von Sargträgern, die von der Nachbarschaft bereitgestellt wurden, getragen. Hierfür kamen acht Männer (zwei mal vier) zum Einsatz. Bei schwereren Särgen oder längeren Wegen gab es zum Auswechseln der Träger acht weitere Ersatzträger.

Die Sargträger formierten sich, hoben den Sarg an und nahmen mit dem Leichenzug den Weg zum Friedhof auf. In späteren Jahren gab es einen Leichenwagen, auf dem der Sarg gefahren wurde. Der Leichenzug wurde von der Blaskapelle geführt. Gefolgt wurde diese, wegen der Lautstärke mit einigem Abstand, von den Sargträgern. Es folgten die nächsten Angehörigen und anschließend die Gemeindemitglieder. Hatte der Verstorbene eine große Verwandtschaft oder war er zu Lebzeiten sehr bekannt, so konnte der Leichenzug sich manchmal auch sehr in die Länge ziehen. Bei einer großen Trauergemeinde konnte es beispielsweise passieren, dass die hintersten Personen im Leichenzug von der Blasmusik vorne nichts mehr hörten.

Die Friedhofskapelle im Jahr 2017

Auf dem Friedhof wurde der Sarg in der Friedhofskapelle aufgebahrt. Der Pfarrer verabschiedete den Toten mit seinem Lebenslauf, Gebet und Aussegnung. Zur feierlichen Verabschiedung sang der Kirchenchor. Zum Abschluss der Zeremonie in der Kapelle wurden die Glocken der großen Kirche geläutet, da in der Friedhofskapelle nur die kleine Glocke vorhanden war. Um dem Glöckner in der Kirche das Ende der Zeremonie zu signalisieren, wurde ein Blech am Türmchen der Kapelle mit einem Seil hinuntergezogen, wonach eine Person im Kirchturm Ausschau gehalten hatte.

Von der Kapelle aus ging anschließend der Trauermarsch hin zum offenen Grab. Dort wurde vom Leichenbitter der Vers „Was wir bergen in den Särgen, ist das Erdekleid, was wir lieben, ist geblieben, bleibt in Ewigkeit.“ aufgesagt. Dort wurde beim Hinabsenken des Sargs das Lied „Meine Lebenszeit verstreicht“ gesungen. Auch hier ertönte der Klang der Kirchenglocken.

Teilnahme am Projekt

Um das Projekts „Rituale des Lebens“ zu unterstützen und somit einen Teil des gelebten Kulturerbes der Heldsdörfer dokumentarisch zu bewahren, können aufgezeichnete Gespräche mit Zeitzeugen bezüglich der Lebensstationen „Geburt, Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Tod“ gerne an uns weitergeleitet werden. Ein weiterer Beitrag kann dadurch geleistet werden, indem alte Fotos so beschriftet werden, dass auch für Menschen ohne Hintergrundwissen ersichtlich ist, um welchen Kontext es geht und welche Personen auf dem Foto zu sehen sind.

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